Welche Geschäfte werden überleben?

Nörgelnde Kunden, nicht vorhandene Innovation und neue Anbieter aus Fernost, die den Markt mit Billigprodukten zu überschwemmen drohen. Dieser Flut an Herausforderungen muss sich auch Dagmar Jenni stellen, Direktorin des Schweizer Detailhandelsverbandes «Swiss Retail Federation». Im Fokus stehen die Preise, die immer wichtiger werden – aber auch Konsumenten, die Schweizer Nachhaltigkeit preisen, gleichzeitig aber von chinesischen Sparangeboten profitieren.
Augenzwinkernd greift der Metzger in die Kühltheke, holt eine Scheibe Lyoner hervor und reicht sie dem Nachwuchs. Diese kleine Geste hinterliess bei vielen Kindern einen grossen Eindruck. Solche Erfahrungen scheinen allerdings zu verblassen. Ob der Einkauf in der Metzgerei, das Stöbern in Papeterien oder die Suche nach dem richtigen Arzneimittel in der Apotheke – wo früher das Leben pulsierte, warten heute teilweise leblose Schaufenster. Das Lädelisterben greift um sich, so der allgemeine Eindruck, und mit jedem geschlossenen Geschäft geht ein Stück lokaler Identität verloren. Doch das Bild ist nicht überall düster.
Der Online-Handel in der Schweiz steckt in der Krise, Billigware aus Fernost macht den hiesigen Anbietern zu schaffen.Fotos: Ben Abegglen
Krise und Konkurrenz aus Fernost
Manche Innenstädte und Einkaufszentren trotzen dem Wandel, und auch der Detailhandel als Ganzes zeigt sich mancherorts widerstandsfähiger als erwartet. «Der stationäre Handel ist im Jahr 2024 nominell gesamtheitlich um 0,8 Prozent gewachsen», erläutert Dagmar Jenni, Direktorin des Schweizer Detailhandelsverbandes «Swiss Retail Federation». Hingegen sei es der immer wieder für das Ladensterben verantwortlich gemachte Onlinehandel, der nun unter massivem Druck stehe. «Es muss allerdings ganz klar zwischen den Branchen differenziert werden.»
„Temu dürfte um die 800 Millionen Franken Umsatz gemacht haben“
– Dagmar Jenni Direktorin «Swiss Retail Federation»Bern
Der inländische Onlinehandel musste demnach einen markanten Umsatzrückgang von mehr als vier Prozent hinnehmen. «Die Krise des digitalen Handels erreicht damit ihren vorläufigen Höhepunkt», so Jenni. Anders bei gewissen ausländischen Anbietern, die sich auf Online-Angebote spezialisiert haben. Diese könnten in der Schweiz unter Umständen bald einmal an der Milliardenmarke kratzen. «Gerade die Konkurrenz aus Fernost macht uns zu schaffen.»
Herr und Frau Schweizer plädieren laut Branchenkennerin Jenni für Nachhaltigkeit und Qualität – die Realität zeichne jedoch ein ganz anderes Bild.
Exemplarisch für die Bedrohung aus dem Fernen Osten steht der Online-Marktplatz Temu, welcher Waren letztlich zwischen Lieferant und Kunde vermittelt. Extrem niedrige Preise in Kombination mit grosszügigen Rabattaktionen und einer beinahe anbiedernden Kulanz scheint den Nerv sehr vieler Schweizerinnen und Schweizer zu treffen. «Der chinesische Anbieter hat sich in Rekordzeit etabliert.» So konnten 2023 alleine in der Schweiz 350 Millionen Franken umgesetzt werden. Im Jahr 2024 war es bereits mehr als doppelt so viel. «Temu dürfte um die 800 Millionen Franken Umsatz gemacht haben», so Jenni. Erste Anzeichen dieser eindrücklichen Summe seien indes bereits in Umfragen auszumachen gewesen.
„Es soll möglichst günstig sein […] der Preis ist König“
– Dagmar Jenni Direktorin «Swiss Retail Federation»Bern
Für die preissensitive Kundschaft hierzulande gelte vor allem eines: «Es soll möglichst günstig sein – und das gilt über alle Einkommensklassen hinweg. Diese Klientel hat eine Affinität für Schnäppchen und achtet besonders auf Aktionen. Der Preis ist König». Die gern gebrauchten Schlagwörter wie Nachhaltigkeit, Regionalität oder Qualität scheinen im Fluss des Geldes unterzugehen. Ein Thema, das bereits länger Fragen aufwirft. Woher kommt diese Lücke zwischen den vermeintlich hohen Ansprüchen der Konsumenten und dem tatsächlichen Einkaufsverhalten? «Warum dies bei Herr und Frau Schweizer so ist, das versuchen wir derzeit herauszufinden.» Bisher konnten noch keine abschliessenden Antworten gefunden werden. Wie es scheint, wird immer häufiger «z’Füfi u z’Weggli» und obendrauf noch das «Schoggistängeli» verlangt.
«Der Preis ist König», so das Fazit zur derzeitigen Situation von Dagmar Jenni, Direktorin des Schweizer Detailhandelsverbandes «Swiss Retail Federation».
Hochpreisinsel Schweiz?
Eine weitere Diskrepanz lasse sich bei der Preisfrage ausmachen. «Ich habe es schon einmal gesagt – mit unseren Löhnen einkaufen wollen wie im günstigsten Land Europas, das geht nicht auf. Dafür muss man kein Einstein sein.» Wer tatsächlich solche Kampfpreise verlange, der verschliesse die Augen vor einem drohenden Dominoeffekt. «Schlussendlich müssten wir die Erwachsenen fragen, ob es für sie genehm wäre, wenn ihr Nachwuchs eine Lehre in China absolvieren würde.»
„Teilweise waren wir sicherlich ein wenig zu bequem“
– Dagmar Jenni Direktorin «Swiss Retail Federation»Bern
Der Vorwurf, die Schweiz sei eine Hochpreisinsel, lässt die Direktorin des Schweizer Detailhandelsverbandes nicht gelten. «Vergangenen Herbst wurde eine Studie publiziert, die zeigt, dass Schweizer Detailhändler gegenüber den angrenzenden Nachbarländern mit 50 Prozent höheren Kosten zu kämpfen haben – während die Verkaufspreise im Schnitt nur 35 Prozent über denen der Nachbarländer liegen.»
Die Ergebnisse des Wirtschaftsforschungsinstitutes «BAK Economics» verdeutlichen laut Jenni die teilweise «erheblichen Kostennachteile». Im Vergleich zu einem chinesischen Anbieter falle das Ungleichgewicht nochmals viel höher aus. «Solche Anbieter machen allerdings auch vieles richtig.» Mittels Workshops mit den Verbandsmitgliedern soll nun eruiert werden, welche Erfahrungswerte durch Online-Plattformen wie Temu gewonnen werden können. «Wir wollen das Profil schärfen und den Mitgliedern einen Leitfaden an die Hand geben.» Dass nicht gross am Preis geschraubt werden kann, liege auf der Hand, so Jenni.
Das Klischee, dass die Schweiz und damit Geschäfte wie hier in Bern eine Hochpreisinsel seien, stehe im Widerspruch zu den «erheblichen Kostennachteilen» des hiesigen Detailhandels.
Auf der anderen Seite darf die Frage erlaubt sein, ob der Schweizer Detailhandel die Entwicklungen der vergangenen Jahre ein wenig verschlafen hat. «Das ist ein berechtigter Einwand. Und ja, teilweise waren wir sicherlich ein wenig zu bequem.» Die Transferleistung der Kundschaft, dass Qualität, Produktsicherheit oder Nachhaltigkeit auch ihren Preis haben, wurde nicht erbracht. «Darauf wurde lange aufgebaut.» Mittlerweile habe sich herausgestellt, dass neben niedrigen Preisen auch die Bequemlichkeit ein entscheidender Faktor sei. Dies dürfte sich unter anderem in Unverpackt-Läden widerspiegeln, die stellenweise stillschweigend ihre Sachen gepackt haben und schliessen mussten.
Generell finde eine gewisse Bereinigung statt, so Jenni. «Es gibt jedoch Detailhandelsbranchen, die interessante Entwicklungsmöglichkeit aufweisen – beispielsweise der Bereich Gesundheit und Schönheit.» Das Potenzial liege in einer «exzellenten Kuratierung des Sortiments», kombiniert mit einer «gut vernetzten Beratung» und «vielfältigen Angeboten». Trotzdem wird deutlich, dass für eine erfolgreiche Zukunft auch einiges an Flexibilität und Innovation erforderlich sein wird. «Dazu gehört auch ein noch besserer Service oder auch Synergien zwischen Ladenflächen und Onlinehandel, die genutzt werden.» Nur so lasse sich verhindern, dass das Lädelisterben weiter voranschreite. «Doch dürfen wir die positiven Entwicklungen nicht aus den Augen verlieren.» Der Schweizer Detailhandel habe immer wieder gezeigt, dass er anpassungsfähig sei. «Und genau darin liegt seine Chance.»
Ein drohendes Problem stellt das preissensitive Kundensegment dar, welches auf Schnäppchen und möglichst günstige Angebote aus ist.
Schweizer Detailhandel in Zahlen
Wie aktuelle Zahlen der Organisationseinheit «Präsenz Schweiz» des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) und des Bundesamtes für Statistik (BFS) zeigen, verzeichnet der Schweizer Detailhandel gesamthaft rund 35’000 Unternehmen. Von den über 300’000 Beschäftigten in der Branche ist die Mehrheit weiblich und arbeitet Teilzeit.
Vergangenes Jahr konnten rund 104 Milliarden Franken Umsatz generiert werden, erläutert die Direktorin der «Swiss Retail Federation» Dagmar Jenni. Die zwei genossenschaftlich organisierten Konzerne Migros (30 Milliarden Franken Umsatz, mit rund 98’000 Beschäftigten) und Coop (34 Milliarden Franken, mit rund 95’000 Beschäftigten) sind derzeit die klaren Marktführer.
Quelle: https://www.plattformj.ch/artikel/229762/